75 Jahre Befreiung vom Faschismus
11. Mai 2020
Zum geplanten pax
christi-Gedenkgottesdienst auf der Kriegsgräberstätte Groß Fullen/Meppen am 8.
Mai 2020 zu „75 Jahre Befreiung vom Faschismus“ hatte Generalvikar Theo Paul
eine Predigt vorbereitet. Wegen den Corona-Einschränkungen konnte der
Gedenkgottesdienst leider nicht gehalten werden.
Dankenswerterweise stellt uns Theo Paul seine Predigt zur Verfügung, die er am 8. Mai auch in seinem Blog auf der Homepage des Bistums Osnabrück eingestellt hat.
Liebe Mitchristen!
75 Jahre Befreiung vom Faschismus – Ende des II. Weltkriegs.
27. Januar: 75 Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer der Shoah.
2. März: Vatikan öffnet die Archive zu Papst Pius XII. Welche Rolle hat er im II. Weltkrieg, im Holocaust eingenommen?
Der Tag der Befreiung vom Faschismus stellt auch die Frage nach der Rolle der Christen und der Kirche in der Zeit der Nazi-Diktatur.
Wir sind auf dem Gelände eines Konzentrationslagers. Wie
konnte es dazu kommen? Warum haben so wenige Menschen sich zur Wehr gesetzt,
als ihre jüdischen Nachbarn verfolgt und verschleppt wurden? Als christliche
Kirche warnen wir heute vor wachsendem Hass bzw. Antisemitismus und prangern
die steigende Tendenz an, die Ereignisse der Shoah zu verharmlosen oder gar zu
leugnen.
Verachtung und Hass entwickeln sich allmählich aus Worten,
Stereotypen und Vorurteilen – durch rechtliche Ausgrenzung, Entmenschlichung
und Gewalteskalation. An diesem Tag des Gedenkens bringen wir für die Opfer
dieses schrecklichen Verbrechens Respekt und Trauer zum Ausdruck. Wir danken
allen, die ihr Leben eingesetzt haben, um unser Land vom Faschismus zu
befreien. Wir verneigen uns vor allen, die in diesem Befreiungskampf ihr Leben
verloren haben.
Vor einigen Monaten ist er gestorben, der seine ganze
Theologie – als Theologie „nach Auschwitz“ verstanden hat. Johann Baptist Metz
plädierte für eine moralische Auffassung von Tradition, die nur dann Maßstäbe
für das eigene Handeln aus der Geschichte gewinnt, wenn sie sich der
katastrophischen Dimension der Geschichte stellt. Wir können keine Verkündigung
an Groß Fullen, Esterwegen, Bockhorst, Groß Hesepe – Auschwitz, Bergen-Belsen,
Dachau vorbei praktizieren. Nur mit Blick auf die verstummten Opfer können wir
uns den Menschen der Gegenwart zuwenden. Dieser 8. Mai ist Tag der Befreiung,
Gedenktag an die Opfer der Kriege und Eingeständnis in die Verstrickung in
Schuldzusammenhängen von Christen und Kirche in ein System von Unrecht und Gewalt.
1982 war ich das erste Mal zu einem Gedenkgottesdienst in
Groß Fullen. Wir wollten an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern. Damals
wurden wir damit konfrontiert, dass wir doch endlich die Zeit des
Nationalsozialismus ruhen lassen sollten. Es sei schon soviel darüber
geschrieben worden. Wir haben – Gott sei Dank – nicht geschwiegen. Die kleine
Pax Christi-Gruppe und auch andere Institutionen haben die Erinnerung an das
Grauen des Faschismus wachgehalten. Ob gelegen oder ungelegen – auch heute 2020,
wer hätte es für möglich gehalten, dass wir mit einem um sich greifenden
Populismus, der mit seinen einfachen und oft menschenverachtenden Antworten
große Sorgen bereitet, konfrontiert werden. In unserem Land macht sich ein
zunehmender Antisemitismus breit. Ich erinnere an den Mord von Kassel, den
Anschlag von Halle und die Morde von Hanau. Wer hätte dies 1982 für möglich
gehalten. Wir können unser Zusammenleben nicht gestalten ohne die Gläubigen des
Judentums, die Muslime und alle Migranten in unsere Sorge mit einzuschließen.
Gedenktag der Befreiung von Faschismus ist für uns verbunden
„mit einem Suchen, was den Frieden schafft“. Friede will als „Fried-Fertigkeit“
ständig gelebt werden, gerade in einer Welt der Friedlosigkeit. Mehr als
zwanzig militärische Konflikte kostet jedes Jahr Tausenden von Menschen das
Leben und treibt Abertausende in die Flucht. „Der Tod ist ein Meister aus
Deutschland“ klagte der jüdische Dichter Paul Celan im Jahre 1944 in seinem
Gedicht „Todesfuge“. Wir sind eine der größten Waffenschmieden der Welt. Wir
liefern militärische Rüstung in die verschiedenen Konfliktherde. Gegenwärtig
scheint die Menschheit wieder wild entschlossen, ihre eigene Vernichtung
vorzubereiten. Abrüstungsverträge werden aufgekündigt, es droht ein neues atomares
Wettrüsten. Mehr noch: Die Arsenale sollen zusätzlich um neue, angeblich kleine
taktile Atomwaffen erweitert werden. Kein Wunder, dass namhafte
Atomwissenschaftler ihre sogenannte „Weltuntergangsuhr“ von fünf auf zwei
Minuten vor zwölf vorgestellt haben.
Kein Zweifel: Der „Kalte Krieg“ ist wieder aus der
Rumpelkammer auf die Weltbühne zurückgekehrt. Die Rüstungshaushalte werden
wieder erhöht. Waffenstarrend stehen sich die Völker gegenüber. Wir wissen
doch: Rüstung tötet, auch ohne Krieg. Denn Rüstung ist Mord an den
Bedürftigsten dieser Welt. Ohne Militärausgaben wäre es ein Leichtes, Armut und
Not zu überwinden. Kein Kind müsste mehr Hungersterben, kein Flüchtling mehr im
Mittelmeer ertrinken. Lebensmittel statt Raketen, Decken statt Bombenteppiche.
Wir sind in einer Zeit der Neuausrichtung der Kirche. Es ist
ein Segen, dass Papst Franziskus nicht nur die Archive von Papst Pius XII.
öffnet. Er ermutigt uns, den Konflikten der Welt nicht auszuweichen. Die Kriege
in Syrien, Irak, Kongo, Mali, Libyen … lösen Flucht und Verfolgung aus.
„Wenn wir die Probleme nicht lösen, wenn wir Mauern aufbauen
und Abgrenzungen in Gang bringen. Die Welt kann nur bestehen, wenn wir Brücken
bauen und Menschen in Frieden leben …. Wir brauchen Dialog, Gerechtigkeit, die
Austrocknung der Gewalt und Hoffnung für die Völker, dass sie vorankommen im
Kampf gegen Ungerechtigkeit und Verfolgung. Die Kirche hilft, als Werkzeug für
Frieden und Versöhnung aller Menschen zu dienen. Wir verlieren die Identität
als Christen, wenn wir uns abgrenzen, das war auch immer eine Gefahr in der
Geschichte der Kirche.“ (Papst Franziskus)
Kirche als Sauerteig – als Sakrament in den Friedensprozessen unserer Tage. Ganz im Sinne von Abraham Joshua Heschel, der sagt: „Unser Zeitalter bedeutet das Ende der Selbstzufriedenheit, das Ende des Ausweichens, das Ende der Selbstsicherheit. Gefahren und Ängste sind Juden und Christen gemeinsam; wir stehen zusammen am Rande des Abgrunds. Die Interdependenz der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der ganzen Welt ist eine grundlegende Tatsache unserer Situation. Störung der Ordnung in einem „kleinen Land irgendwo auf der Welt erweckt Befürchtungen bei den Menschen auf der ganzen Welt. Beschränkung auf die eigene Gemeinschaft ist unhaltbar geworden …. Die Religionen der Welt sind so wenig selbständig, unabhängig oder isoliert wie Einzelmenschen oder Nationen. … Keine Religion ist ein Eiland. Wir alle sind miteinander verbunden. Verrat am Geist auf Seiten eines von uns berührt den Glauben aller. Ansichten einer Gemeinde haben Folgen für andere Gemeinden.“ (Abraham Joschua Heschel, Keine Religion ist ein Eiland (1965), in „Christentum aus jüdischer Sicht“, herausgegeben von Fritz A. Rothschild)
Bringen wir diese globale Sicht in die Debatten ein. Die
Opfer des Faschismus rufen uns zu: Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus. Nie
wieder Schweigen.
Die Tatsache, dass flüchtende Menschen viele Risiken auf
sich nehmen, um in Europa Schutz zu suchen, ist eine positive Aussage über
Europa. „Die Flüchtlinge sehen das vereinte Europa als Raum, in dem die
Menschenrechte geachtet und gewährt werden. (P. Peter Balleis SJ) So ist „das
Europa der Menschenrechte“ herausgefordert, diese Rechte zu gewähren. Der
Umgang mit den Flüchtlingen ist der Testfall, wie ernst es unser Kontingent
wirklich mit den Menschenrechten nimmt. „Flüchtlinge sind Menschen, die Krieg
und Not erlebt haben, sie wollen mehr als jeder andere Frieden und in Frieden
leben. Sie helfen uns das Gute des friedlichen Europas zu schätzen und zu
wahren.“
Liebe Mitchristen! Ich bin dankbar für die
Gedenkstättenarbeit vieler Christen in den zurückliegenden Jahrzehnten. Dankbar
können wir sein für das Engagement von Gemeinden und Christen bei der Aufnahme
von Flüchtlingen. Danke für Pax Christi und anderen Friedensinstitutionen für
ihren Protest gegen Waffenexporte und Aufrüstungsentscheidungen. In allen
diesen Bemühungen können wir Spuren entdecken, die dem Frieden dienen.
Wenn ich an diesem Ort des Grauens und der Verstorbenen
stehe, kommt mir ein Auftrag der Christen und der Kirche in Erinnerung. Wir
sind nicht da, um alle Fragen beantwortbar zu machen, sondern, so hat J. B.
Metz formuliert, um von uns unbeantwortete Fragen unvergesslich zu machen. Als
Glaubende haben wir nicht auf alles eine Antwort, sondern wir haben immer noch
eine weitere Frage (eine Frage zuviel), die wir ins Gebet verwandeln können,
die wir einfach stellen.
Wenn wir von Gott sprechen, zu ihm beten, dann können wir
auch die Entfeindung leben, eine universale Solidarität gestalten, die ihren
letzten Grund in Gott hat. Erinnerungsarbeit ist Friedensarbeit. Wir hören
nicht auf zu rufen: Nie wieder Krieg.
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