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90er Jahre: Gewaltfreiheit und ihre Grenzen

Den Drahtselakt meistern

Andrea Claaßen

„Gewaltfreiheit und ihre Grenzen“ – dieses Buch, das Ende des Jahres in der Reihe „Studien zur Friedensethik“ erscheint, setzt sich mit der Gewaltfreiheitsdebatte auseinander, die Mitte der Neunzigerjahre in der deutschen pax christi-Sektion geführt wurde. Zur Erinnerung, auch wenn sich manche von Ihnen schmerzlich daran erinnern werden: Im Sommer des Jahres 1995, als es während des Krieges in Bosnien und Herzegowina (z. B. in Srebrenica) zu entsetzlichen Völkermorden gekommen war, gab der geschäftsführende Vorstand eine Erklärung heraus und der Generalsekretär ergänzte die darin enthaltene Aussage fast zeitgleich in einem Interview: Sie zogen unter gewissen Umständen wie Völkermord ein militärisches Eingreifen der westlichen Mächte in Erwägung.

Die darauffolgenden Reaktionen vonseiten etlicher Mitglieder waren sehr kritisch und nicht wenige waren auch ob der Vorgehensweise äußerst erbost. Eine schnelle Klärung auf der im November stattfindenden Delegiertenversammlung konnte nicht erreicht werden, auch wenn dort eine Erklärung erarbeitet wurde. Aber erstens waren die Ansichten innerhalb der Bewegung zu kontrovers, als dass ein so kurzer Diskussionsprozess der Sache genügt hätte. Zweitens führten weitere Wortmeldungen durch den geschäftsführenden Vorstand und den Generalsekretär dazu, dass sich die Kritik erneut entzündete statt abschwächte.

Der Charakter des Streits

In inhaltlichen Diskussionen und durch eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Gewaltfreiheitsfrage wurde versucht, einer Klärung näherzukommen, die auf der Delegiertenversammlung im November 1996 herbeigeführt werden sollte. Diese Versammlung verfasste mit dem Hübinger Beschluss eine Erklärung, die den Standpunkt von pax christi darstellen und mit der die Debatte um die Gewaltfreiheitsfrage für weite – aber nicht für alle – Teile von pax christi beendet werden sollte.

Meine Dissertation geht dabei der Frage nach, welchen Charakter der Streit hatte. Sie wirft einen Blick auf die inhaltliche Argumentation, das Selbstverständnis und das Konfliktverhalten der Akteure. Ziel war es, durch die Aufarbeitung dieser schwerwiegenden Auseinandersetzung eine Antwort auf die Frage zu bekommen, inwieweit es bei dem Streit um die Sache an sich, um das Selbstverständnis von pax christi oder um Macht innerhalb des Meinungsstreits ging. Besonders interessant ist dabei der Faktor Selbstverständnis. Auch wenn ihm ein eigenes Kapitel gewidmet ist, so wurde schon schnell deutlich, dass er alle Bereiche durchzog und bedingte.

Auf neue Entwicklungen einlassen

Hervorheben möchte ich hier nun die damit verbundene Frage der Selbstvergewisserung einer gesellschaftlichen Gruppe – auch über den damaligen bewegungsinternen Kontext hinweg auf Zukunft hin. Es ist nämlich ein Phänomen, das leicht auf andere soziale Gruppen übertragen werden kann und von bleibender Aktualität ist – sei es in der Kirche, sei es in der Gesellschaft. Es lässt sich fragen: Wie viel Standpunkt, wie viel Bewegung braucht eine Gruppe? Wie weit muss sie einen Kontrapunkt zu aus ihrer Sicht kritischen gesellschaftlichen Entwicklungen setzen und sich ihnen gegenüber abgrenzen? Wie weit muss sie sich aber auch der Außenwelt öffnen und mit ihr und auch untereinander im Dialog bleiben? Wie weit muss sie sich auf neue Entwicklungen einlassen und doch im eigenen Sinne interpretieren?

Das ist ohne Frage ein Drahtseilakt, wie schon die Debatte in pax christi zeigte. Ein Satz von Walter Dirks, den damals Joachim Garstecki zu dieser Thematik zitierte, sei auch hier genannt: „Ich wandte mich systemfremden Entdeckungen neugierig zu. Und empfand mich von ihnen positiv herausgefordert, bis ich jeweils das alte Wahre mit neuer Erkenntnis zu altneuer Überzeugung differenziert hatte.“ Ein immer noch wahrer Satz, vielleicht mehr denn je. Ein Satz, über den es sich lohnt nachzudenken!

Zwischentöne sehen

Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die dialogfähig sind, die Dinge wie Menschen differenziert betrachten können, die Neuerungen gegenüber aufgeschlossen sind, ohne dabei alle bisherigen Werte und Überzeugungen unhinterfragt über Bord zu werfen. Menschen, die andere Meinungen zulassen und versuchen, mit diesen ins Gespräch zu kommen. Menschen also, die sich mit alten Wahrheiten kritisch auseinandersetzen und ihre Gültigkeit in veränderten Kontexten hinterfragen. Menschen, die dabei die „Zeichen der Zeit“ berücksichtigen; Menschen, die nicht im Schwarz-Weiß-Denken verhaftet bleiben, sondern auch die Zwischentöne sehen. Und es braucht Menschen, die miteinander streiten können, ohne sich zu bekriegen.

Ich wünsche pax christi, dass sie immer wieder den Drahtseilakt meistert, also in gewisser Weise ein Gegenpol zu den zunehmenden Tendenzen der Undifferenziertheit ist, aber dennoch in Bewegung und im Dialog mit der Gesellschaft bleibt und als Vorbild für eine faire Streitkultur vorweg geht, wie es auch in der damals geführten Debatte an mancher Stelle angemahnt wurde.

Andrea Claaßen schrieb ihre Doktorarbeit über: Gewaltfreiheit und ihre Grenzen. Die friedensethische Debatte in pax christi vor dem Hintergrund des Bosnienkrieges (Studien zur Friedensethik). Das Buch erscheint gegen Ende des Jahres im Aschendorff Verlag.

 

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